Neue Arbeit: So gut wie Sex?

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Was wäre, wenn Arbeit das Köstlichste wäre, was wir uns vorstellen können? Der Philosoph Frithjof Bergmann ist sich sicher: das ist nicht nur möglich, sondern der nächste notwendige Schritt für den Menschen - der Schritt von der alten zur Neuen Arbeit, wie er sie nennt. Nebenbei analysiert er in diesem Interview mit dem Magazin agora42 auch noch die Wirtschaftkrise und räumt mit ein paar hartnäckigen Legenden auf.



Herr Bergmann, Sie haben vor über 25 Jahren den Begriff der „Neuen Arbeit" geprägt. Wodurch unterscheidet sich die Neue Arbeit von der alten Arbeit?

Alte Arbeit ist Jobarbeit oder Arbeitsplatzarbeit. Alte Arbeit funktioniert nach dem System, dass man für jemand anderen arbeitet, dass ein anderer einem sagt, was man zu tun hat, und dass man von jemand anderem bezahlt wird. Historisch gesehen, gibt es das Jobsystem beziehungsweise das Arbeitsplatzsystem, das wir jetzt haben, noch gar nicht so lange - rund 200 Jahre. Heutzutage könnte man ja fast den Eindruck gewinnen, man hätte schon in der Steinzeit eine Stechuhr gehabt, die einem vorgab, dass man um 9 Uhr mit der Arbeit anfing und um 17 Uhr aufhörte. Alte Arbeit ist Arbeit, die man tun muss. Das ist auch der verbreitete Begriff der Arbeit hier in Deutschland: Arbeit muss hart sein, Arbeit muss schwer sein - ansonsten ist es keine wirkliche Arbeit.
Am Anfang der Neuen Arbeit stand der Gegensatz zwischen „Arbeit tun müssen" und „Arbeit tun, die man wirklich will". Neue Arbeit ist der Versuch, schrittweise dahin zu kommen, dass man in einem immer größeren Maß das tut, was einem entspricht, das tut, für das man eine Begabung hat, das tut, was einem nicht nur persönlich entspricht, sondern auch der Weltanschauung, die man hat. Auf den Punkt gebracht: Sex muss schon sehr gut sein, um den Vergleich mit Neuer Arbeit auszuhalten.


Sicherlich würden die meisten Menschen eine solche Arbeit begrüßen; und dann argumentieren, dass leider das Leben so nicht sei, dass man eben zumeist nicht die Arbeit tun kann, die man wirklich will; der Mensch sei im Naturzustand brutal und eher auf Konfrontation als auf Kooperation ausgelegt, er sei nicht in der Lage, frei über sein Leben zu bestimmen. Müsste der Neuen Arbeit also nicht ein gewaltiger Bewusstseinswandel vorausgehen?

Da sage ich ganz klar: Nein! Es dreht sich nicht darum, dass wir unser Denken über die menschliche Natur vollkommen auf den Kopf stellen sollen. Im Gegenteil: Die Welt, in der wir leben, passt nicht mehr zu unserem Denken. Mit anderen Worten: Es dreht sich nicht darum, die Menschen davon zu überzeugen, ganz andere Werte zu adoptieren, sondern darum, dass eine riesige Distanz besteht zwischen den Werten beziehungsweise Begriffen, die wir jetzt schon haben, und der Art und Weise, wie unsere Welt strukturiert ist. Es geht darum zu begreifen, dass die Veränderung im Denken schon passiert ist. Wir denken längst nicht mehr in den Kategorien überlieferter Theorien wie zum Beispiel jener von Thomas Hobbes, der einen „Naturzustand" ausmalte, in dem sich die Menschen gegenseitig bekämpfen. Eine Unmenge Studien belegt, dass Kooperation eine große Rolle in der Evolution gespielt hat - und in der Entwicklung unserer Psyche gespielt hat; dass Kooperation zur menschlichen Entwicklung mehr beigetragen hat als das Sich-gegenseitig-Bekämpfen. Es geht mir also überhaupt nicht darum, prophetisch zu sein, sondern darum aufzuzeigen, dass wir nur annehmen und umsetzen müssen, was wir bereits wissen. Ich versuche die Welt dahingehend zu verändern, dass sie zu uns passt und den Wertvorstellungen, die wir haben, entspricht.

Was dabei eine große Rolle spielt, ist der Begriff der Lebensqualität - welche Entwicklungsmöglichkeiten man also hat und welche Möglichkeiten, sich selbst im eigenen Leben zu finden. Auch hier gilt wieder: Die Veränderung ist bereits eingetreten. Der Begriff „der Autor des eigenen Lebens werden" ist gang und gäbe geworden. Das ist bereits die Art und Weise, wie wir denken. Die Neue Arbeit ist der Versuch, dieses Denken auf die Arbeit zu übertragen - die Arbeit dahingehend zu strukturieren, dass sie diese neuen Werte im Sozialen widerspiegelt. Aber das Denken ist zum Großteil schon da. Insofern besteht meine Aufgabe nicht darin, das Denken zu revolutionieren, sondern „nur", die Welt von Grund auf zu verändern.


Die Sehnsucht nach einem erfüllten und selbstbestimmten Leben gab es im Prinzip ja auch schon, als Sie die Theorie der Neuen Arbeit entwickelt haben. Warum findet Ihre Theorie gerade jetzt immer mehr Anklang?

Am Anfang meiner Gedanken stand nichts Weltbewegendes - vielmehr stand ich unter dem Einfluss des Schriftstellers und Philosophen Albert Camus, der gesagt hat, dass die Welt keinen Sinn hat. Ich habe damals in Stanford unterrichtet und bin oft am Strand auf und ab gegangen. Dabei habe ich aus einer Art Zorn auf die Welt oder Entrüstung über die Welt den Gedanken gehabt: Wenn sowieso alles sinnlos ist, dann werde ich etwas wirklich Sinnloses machen.

Mir ist schon in den Jahren 1978-81 - also nicht erst 1989 - klar geworden, dass das, was man Kommunismus nannte, sterben würde. Es war mir allerdings damals auch schon klar, dass auch das kapitalistische System sich auf einen fürchterlichen Zustand hin entwickeln würde - auf einen Zustand hin, den ich „Schlachtspaltung" nenne. Damit meine ich die blutige, tiefe Wunde, die sich öffnet zwischen den 20 Prozent, die ich die Oasenmenschen nenne, und den 80 Prozent, die ich als Wüstenmenschen bezeichne, weil ich den Ausdruck „sozial Schwache" hasse. So kam in mir der Gedanke auf: Im Grunde genommen müssen wir ganz von vorne anfangen. Wir müssen wirklich neu denken. Worauf könnte eine Alternative zu diesen beiden Systemen beruhen?

Warum die Theorie der Neuen Arbeit gerade jetzt einen Aufschwung erlebt? Weil die Probleme in der Welt - und ich komme gerade aus Afrika zurück - Ausmaße angenommen haben, die unvorstellbar sind. All das, was anfangs eher als Provokation gemeint war, als „Stell dir das alles mal ganz anders vor", das ist jetzt wirklichkeitsnah geworden. Aus vielen verschiedenen Gründen: wegen der „Schlachtspaltung", die ich eben erwähnt habe, wegen des Ressourcenproblems, wegen des Klimaproblems et cetera. Und auch, weil wir jetzt über Technologien verfügen, die ein anderes Arbeiten und Wirtschaften möglich machen.

Ich finde im Zusammenhang mit den heutigen Problemen den Vergleich mit den ägyptischen Plagen sehr passend. Die sind in der Bibel toll beschrieben: Die blutgefüllten Flüsse, das Belagertwerden von den Fröschen ... Ich denke, dass wir in eine Situation kommen, in der uns sechs Plagen - nicht zehn, wie in der Bibel - heimsuchen werden.


Die Heuschrecken haben wir schon gesehen, kommen demnächst die Frösche?

Zunächst kommt noch eine Finanzkrise. Und diese wird viel durchschlagender und zerstörerischer sein als die, die man angeblich hinter sich hat. Die zweite Plage wird eine gewaltige Wirtschaftskrise sein. Drittens die erwähnte „Schlachtspaltung". Viertens das Problem der Ressourcen - das ist nicht ganz dasselbe wie das Problem der Verhunzung der Natur. Das Sinnbild der Verhunzung der Natur ist im Augenblick der Golf von Mexiko. Aber mein Sinnbild für Ressourcen ist nicht Öl, sondern Wasser. In der nächsten Periode wird uns das Wasser ausgehen und ein Riesenproblem werden. Also das Ausgehen von Ressourcen ist die vierte Plage. Die Verhunzung der Natur ist die fünfte. Aber jetzt kommt noch eine Plage dazu: nämlich dass die Qualität des Lebens systematisch verschlechtert wird. Dass der Druck auf das alltägliche Leben größer und größer wird. Damit meine ich auch all das, was sich mit den Begriffen Stress und Burn-out verbindet; ich meine die Tatsache, dass man kaum mehr Zeit hat für die Kinder und, was ich immer gerne betone, ist, dass man sozusagen im kleinen schwarzen Buch blättern muss, um herauszubekommen, wann man unter Umständen Sex haben kann, weil kaum noch Zeit und Energie dafür vorhanden sind.

Ich nenne dies „das Verbrennen der Geigen". Was ich damit meine, ist, dass wir, metaphorisch ausgedrückt, im Grunde genommen alles, was den Wert und die Qualität des Lebens ausmacht, ins Feuer werfen - in das Feuer, das den Kessel der Wirtschaft unter Hochdruckdampf hält. Wir reduzieren das Geld für Bildung, Oper, Theater, Kindergärten und, und, und ... Irgendwann reißen wir auch noch die Bilder von der Wand, um sie zu verfeuern, und als Nächstes werfen wir die Musikinstrumente hinterher. All dies, um - hässlich ausgedrückt - ein attraktives Bordell für die Wirtschaft zu bleiben.


Unsere Gesellschaft wird maßgeblich durch die Ökonomie bestimmt. Wie würde sich die Neue Arbeit wirtschaftlich auswirken - wenn also jeder nur noch das tut, worin er Erfüllung findet?

Das Wort „nur" möchte ich herausgreifen, denn darin kommt ein fast unausrottbares Missverständnis gegenüber der Neuen Arbeit zum Ausdruck. Es geht bei der Neuen Arbeit nicht darum, nur das zu tun, zu dem man gerade Lust hat. Es gab von Anfang an die Einsicht, dass man selbstverständlich täglich Dinge tun muss, die man nicht unbedingt tun will. Angefangen beim Waschen von Unterhosen ...

Es verhält sich genau umgekehrt. Es gibt sehr viele Menschen, die sich in ihrem ganzen Leben nicht ein einziges Mal die Frage gestellt haben, welche Arbeit sie wirklich, wirklich tun wollen. Man sollte es dazu bringen, dass diese Frage wenigstens einmal gestellt wird; dass diese Frage überhaupt eine Rolle im Leben spielt. Und dass man die Arbeit, die man verrichtet, danach beurteilt.
Zur Frage, wie die Wirtschaft aussehen würde: Die Menschen in frühen Kulturen haben größtenteils nur zwei Stunden am Tag gearbeitet. Die ganze restliche Zeit wurde mit allen möglichen anderen Dingen verbracht. Zwei Stunden am Tag! Was für ein Unterschied zu der Art und Weise, wie heute gearbeitet wird. Ein Sündenfall ist die protestantische Ethik und der sich daraus entwickelnde Geist des Kapitalismus - wie Max Weber das in seinem berühmten Buch beschrieben hat. Die Rückkehr zu der Zeit vor dem Sündenfall ist ein ganz zentraler Teil des Zukunftsbilds, an dem wir arbeiten. Die Ökonomie soll untergeordnet werden, sie soll uns dienen und nebensächlich sein. Bildhaft gesprochen: eine Situation, in der die Fabriken klein werden, in der die Banken und Bürotürme klein werden - auch im Stadtbild. Eine Situation, in der sie eine beinahe schon schamhafte Rolle spielt.
Das verbinde ich mit folgender Überlegung: Wir haben die Technologie, die es uns ermöglichen könnte, mit sehr wenig Anstrengung, sehr wenigen Ressourcen und sehr geringem Zeitaufwand einen sehr großen Wohlstand zu erzeugen.


Ist es aber nicht genau das, was unter dem Stichwort „Uns geht die Arbeit aus" diskutiert wird - dass nämlich durch die Automatisierung und Flexibilisierung von Arbeitsabläufen immer mehr Arbeitsplätze wegfallen?

Nein. Die Arbeit ist unendlich. Die Idee, dass uns die Arbeit ausgeht, ist eine Professorenblödheit. Das ist undenkbar, einfach weil alles, was um uns herum existiert, eine Einladung zur Arbeit ist. Ob das ein kleines Kind ist oder was auch immer. Die ganze Literatur zum Thema „Uns geht die Arbeit aus" ist überflüssig. Was uns ausgeht, ist die alte Arbeit, organisiert in Arbeitsplätzen. Was uns ausgeht, ist Arbeit, die uns jemand anderes sozusagen in die Hände legt. So müssen wir in Zukunft die Arbeit selbst in die Hand nehmen, selbst bestimmen, was wir als Arbeit definieren. Was zum Teil den Hype erklärt, der um Entrepreneurship gemacht wird.

Ich meine natürlich nicht, dass die Menschen hauptsächlich oder nur noch arbeiten müssen. Aber wir können eine Kultur entwickeln - das ist ein Teil des Versuchs der Neuen Arbeit -, in der Menschen weniger arbeiten und mehr freie Zeit haben.


Wenn Sie sagen, Arbeit sei unendlich, was ist dann keine Arbeit?

Ihre Frage ist natürlich ganz berechtigt. Wenn man Arbeit tut, die man wirklich, wirklich will, worin besteht dann der Unterschied zwischen Spiel und Arbeit? Es ist ein Teil meiner Absicht, dass für viele Menschen der begriffliche Unterschied wegfällt: Arbeite ich, oder ist das, was ich da tue, für mich das Köstlichste im Leben? Mathematiker oder Musiker beispielsweise erleben ihre Arbeit als die schönste Art zu spielen, die für sie denkbar ist. Es gibt überhaupt keine Arbeit, die nicht irgendjemand wirklich, wirklich tun will. Merkwürdig, aber es ist so.

Wir befinden uns heute in einer paradoxen Situation: Einerseits wird Arbeit ganz hoch bewertet und alle Werte werden mit ihr verknüpft - ohne zu arbeiten, verdient man es eigentlich nicht zu essen; ohne zu arbeiten, hat man kein Recht auf Stolz; ohne zu arbeiten, ist man eigentlich nur ein geduldeter Wurm, auf den alle Menschen treten dürfen. Andererseits schafft man die Arbeit, die man mit diesen hohen Werten verknüpft, mehr und mehr ab. Dieser Widerspruch ist fatal. Mir begegnen andauernd Leute, die von sich behaupten: „Ich habe keine Arbeit", und dann stellt sich heraus, dass die betreffende Person dieses oder jenes verkauft, aus ihrer Wohnung heraus alle möglichen kleinen Unternehmen führt oder fünf Kinder allein aufzieht, oder ... Aber man sagt: „Ich habe keine Arbeit."


Würde Neue Arbeit auch bedeuten, dass der Lohn von der Arbeit entkoppelt wird - im Sinne eines bedingungslosen Grundeinkommens, wie es in Deutschland intensiv diskutiert wird?

Nein. Wenn man den Menschen 1000 Euro im Monat gibt, führt das dazu, dass man sie infantilisiert und in eine große Abhängigkeit bringt; es führt dazu, dass sie immer ganz brav „Bitte, bitte" sagen, und wenn das Geld dann nicht da ist, hat das Ganze ganz scheußliche Konsequenzen. Ich habe mich des Öfteren öffentlich mit dem „Papst des Grundeinkommens", Götz Werner, unterhalten und dabei betont, dass es heute schon viele Bevölkerungen gibt, die ein Grundeinkommen beziehen. Zum Beispiel die amerikanischen und kanadischen Indianerstämmen, mit denen ich jahrelang zusammengearbeitet habe. Diese Indianerstämme beziehen ein Grundeinkommen - zur Kompensation der sehr verdienten Schuldgefühle ihnen gegenüber. Das hat absolut verheerende Konsequenzen: Der Alkoholismus und die Drogenabhängigkeit unter den Indianern ist kaum zu glauben. Die Gewalt in den Familien ist fürchterlich - die Männer verprügeln die Frauen in regelmäßigen Abständen. Und all das hat damit zu tun, dass die Indianer nichts zu tun haben. Sie bekommen das Geld, sie müssen sich nicht für Geld anstrengen, und was sie mit dem Geld tun, ist - entgegen der idyllischen Vorstellung von Götz Werner - alles andere als etwas Kreatives. Sie benutzen das Geld, um in die nächste Taverne zu gehen und sich irrsinnig zu besaufen.

Ich habe zu Herrn Werner gesagt: Lieber Herr Professor, der Unterschied zwischen uns beiden besteht darin, dass ich ein ganz anderes Leben lebe als Sie. Sie sind Drogist, ich hingegen arbeite viel mit Drogenabhängigen. Und wenn man - bildlich ausgedrückt - einem Drogenabhängigen vom Balkon aus Geld zuwirft, dann weiß ich genau, was er damit macht.

Ich habe prinzipiell gar nichts gegen ein Grundeinkommen, aber es müsste einhergehen mit Bildung, Unterstützung, Begleitung. Es gibt in unserer Kultur Menschen, bei denen Arbeitslosigkeit zwei, drei Generationen alt ist; bei denen schon die Großeltern keinen richtigen Arbeitsplatz mehr hatten. Es reicht nicht aus, diesen Menschen ein Grundeinkommen zukommen zu lassen. Es ist unbedingt nötig, es dazu zu bringen, dass ein Wiedereinstieg in die Arbeit, eine Wiedergewöhnung an Arbeit passiert.
Das Erlebnis von Arbeit, bei der man einen großen Teil der Dinge, die man zum Leben braucht, gemeinschaftlich selber herstellt, stellt eine Art „Gewöhnungskur" dar; sie führt Menschen, die schon seit Generationen „arbeitslos" waren, schrittweise hin zum Sich-wieder-an-Arbeiten-Gewöhnen.


Verfolgen Sie einen aufklärerischen Ansatz - den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen durch Neue Arbeit?

Ich würde in diesem Zusammenhang nicht den Ausdruck „selbstverschuldete Unmündigkeit" gebrauchen. Es ist viel grundsätzlicher. Ich mache das einmal an einem Beispiel deutlich: Wenn ein Pferd geboren wird, dann läuft das bereits am ersten Abend auf der Wiese herum; wenn dagegen ein menschliches Baby in den ersten Monaten nicht betreut wird, stirbt es. Aus einem Schleimball, der wir ursprünglich sind, muss irgendwie ein menschliches Wesen werden. Und zum Großteil ist das unsere eigene Aufgabe. Das hat aber nicht nur mit geistiger Erkenntnis zu tun, sondern ist immer auch mit dem Erlebnis praktischen Tuns verbunden. Wenn wir nicht daran mitarbeiten, uns zu einem Menschen zu machen, dann werden wir auch nicht zum Menschen werden und werden nicht wirklich leben. Die Vorstellung von einer anderen Lebensqualität hat in der letzten Zeit sehr an Bedeutung gewonnen: Das ist ein Grund für die Tatsache, dass der Ausdruck „im Leben das tun, was man wirklich will" zu einem geflügelten Wort geworden ist.


Könnte man sagen, die Menschen müssen egoistischer werden? Richten wir uns zu sehr nach den „göttlichen" Regeln der „Marktgesetze" und lassen uns bestimmen von „Sachzwängen"?

Absolut richtig. Egoismus im ernsten Sinne des Wortes würde bedeuten, etwas zu tun, das man wirklich tun will. Und das, was man tun will, ist sehr oft etwas, das mit anderen Menschen zu tun hat. Deshalb sollte das auf keinen Fall einen schlechten Ruf haben - vielmehr ist das der Anfang des eigentlichen Lebens!


Auch wenn sich die Ideen der Neuen Arbeit umsetzen lassen - was nützt das, wenn das „große Ganze" der ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse diesen Ideen entgegensteht, wenn durch die Macht der internationalen Großkonzerne solche Entwicklungen gleich wieder eingeebnet werden?

Ich verstehe Ihre Befürchtung. Doch auch wenn man es aufgrund meines Aussehens und meiner fantastischen Äußerungen vielleicht nicht vermuten würde, bin ich in vielerlei Hinsicht ein sehr kalt, pragmatisch und realistisch denkender Mensch.
Es geht beim Neue-Arbeit-Ansatz eben nicht nur um Arbeit, sondern auch um eine neue Kultur und eine neue Wirtschaft. Die Eckpunkte eines neuen Wirtschaftssystems auf Basis der Neuen Arbeit sind folgende:

Erstens würden wir durch neue Arbeitsformen viel mehr Energie zur wirklichen Innovation zur Verfügung haben als jetzt.
Zweitens ist ein großes Rahmenkonzept sehr hilfreich, wenn es um Innovationen geht. Dieser Rahmen beinhaltet, eine vollkommen neue Generation von Produkten zu entwickeln - Produkte, die man in kleinen Räumen gemeinschaftlich selber herstellen kann. Drittens: „Kleine Räume" bedeutet nicht, dass darin etwas Steinzeitmäßiges hergestellt wird, sondern hochintelligente, digitale Maschinen.
Viertens: Wir brauchen Produkte, die den Markt der Menschen bedienen, die wenig verdienen; Produkte, die von diesen Menschen selbst hergestellt werden können.  Wie Günter Faltin es ausgedrückt hat: Massenproduktion ist nicht die effizienteste Form des Wirtschaftens. Sie ist zwar billig in der Herstellung, aber diese macht nur 20 Prozent des Preises des Produkts aus. Der Transport, die Reklame etc. schlägt mit 80 Prozent zu Buche. Aus meiner Sicht wird sich die Herstellung am Ort, ohne Transport, ohne Reklame, ohne Verkaufssituation als ökonomisch besseres, billigeres Modell durchsetzen.

Man wird vielleicht in der Zukunft eine Menge von Afrika lernen müssen. Die Ideen von einer technologisch raffinierten Grundwirtschaft sind in Mosambik, Sansibar oder Südafrika unvergleichlich leichter umzusetzen als beispielsweise in Stuttgart. Sich Dinge selbst zu machen ist für die Menschen dort etwas absolut Notwendiges und Unumgängliches geworden: Man hat sie immer hingehalten und gesagt: „Es wird besser werden", „Wir schaffen Jobs", „Das Wirtschaftswachstum in Südafrika wird alle Probleme lösen". Das alles ist zu so einem grotesken Hohn geworden, sodass das Verlangen nach einem grundsätzlich neuen Ansatz brennend heiß geworden ist. Deutschland und Österreich sind Ausnahmen; übriggebliebene Oasen.

Die Mehrheit der Menschen ist zwar auch hier zu einem ähnlichen Schluss gekommen: Das alte System bricht an allen Ecken und Enden zusammen. Bisher wird diese Einsicht aber noch meist sehr gesittet mit einem Glas Wein in der Hand diskutiert. Fakt ist aber, dass sich diese Ruhe auch in diesen letzten Oasen überraschend schnell ändern könnte.


Das Interview führten Frank Augustin, Wolfram Bernhardt und Nazim Cetin für das Magazin agora42

quelle: www.sein.de