Neues Finanzsystem

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Gemessen am Nutzen für das Gemeinwohl, ist unser Finanzsystem durchgefallen – Entwickeln wir ein neues!

von Dieter Sprock

Die Finanzkrise hat in zahlreichen Ländern rund um den Erdball die Realwirtschaft in Mitleidenschaft gezogen und unzählige Menschen ihrer Existenzgrundlage beraubt; Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger haben weltweit dramatisch zugenommen. Sie hat aber auch die Einsicht reifen lassen, dass es so nicht weitergehen kann. Immer mehr Menschen fragen sich, wie das alles zusammenhängt. In diesem Sinn ist die Krise auch eine Chance für Veränderungen, die es zu nutzen gilt.

Als Mitte 2008 der grosse Finanzbetrug aufflog, waren weltweit plötzlich zahllose Banken vom Konkurs bedroht, darunter einige der grössten US-Banken und andere, die im hochspekulativen internationalen Investment Banking tätig waren. Was war passiert?
Die Börse war seit langem zum Finanz-Casino verkommen. Es wurde spekuliert und gewettet. Der Umsatz hatte nur noch zu einem ganz geringen Teil mit der realen Wirtschaft zu tun. Nun hatten sich die Wertpapiere renommierter Banken als Schrottpapiere entpuppt, und zwar auch solche, die zuvor von sogenannten Rating-Agenturen als besonders sicher eingestuft und den Kunden mit Bankgarantie verkauft worden waren. Betroffen waren vor allem sogenannte strukturierte Finanzprodukte mit verbrieften langfristigen Zahlungsverpflichtungen wie Hypotheken, Leasing- oder Public Private Partnership-Verträge, aber auch Derivate, Hedgefonds, Private Equity-Fonds und andere Finanzprodukte.

Ein betrügerisches Schneeballsystem

Entscheidend war, dass die Geschäfte nicht durch Eigenkapital der Käufer finanziert wurden, sondern durch Kredite Dritter. So wurde ständig neues fiktives Geld geschaffen, das ­lediglich aus Schulden bestand. Am bekanntesten sind die Hypothekarkredite, die von US-Banken an Millionen von Bürgern vergeben wurden, ohne deren Zahlungsfähigkeit überhaupt zu prüfen. Die Banken waren gar nicht darauf bedacht, dass diese Kredite zurückbezahlt wurden, sondern verkauften sie so schnell wie möglich an andere Banken weiter. Diese nahmen für den Kauf Kredite bei einer dritten Bank auf und verkauften sie ebenfalls weiter, und so weiter und so fort. Das Ganze war eine Art offenes Schneeballsystem, das von einem Heer von Beratern, Verkäufern, Anwaltskanzleien und Rating-Agenturen begleitet wurde, die sich gegenseitig die Bonität der Produkte bestätigten und bei jeder Transaktion fette Provisionen einstrichen. Die Hauskäufer waren mit Niedrigstzinsen gelockt worden, die aber nur für die Anfangsjahre galten. Als sie bei steigenden Zinsen ihre Hypotheken nicht mehr bedienen konnten, verloren sie alles. Hunderttausende, die ihr Haus oder ihre Wohnung verloren haben, leben heute in den USA in Zelten.
Eine ähnliche Blase wartet noch im gewerblichen Immobilienmarkt.

Folgen für die Realwirtschaft

Als die Spekulationsblasen in mehreren Ländern gleichzeitig platzten, hielten einige der grössten Akteure faule Papiere für Hunderte von Milliarden Dollars in ihren Depots, für die kein Gegenwert vorhanden war. Zum Beispiel Lehmann Brothers, eine der traditionsreichen US-Investmentbanken, 1850 gegründet, meldete am 15. September 2008 Insolvenz an. Die Schuldenlast betrug 613 Milliarden Dollar, laut Insolvenzgericht. Rund 29 000 Angestellte verloren ihren Arbeitsplatz.
Der Finanzmarkt kam zum Erliegen. Die Banken gaben sich gegenseitig keine Kredite mehr, und damit geriet die sehr kapitalintensive globalisierte Wirtschaft rasch in eine tiefe Rezession. Die Folgen sind bekannt: Betriebsschliessungen, Unternehmenspleiten, massiver Stellenabbau, Entlassungen und eine enorme Zunahme der Arbeitslosigkeit, der Armut und des Hungers, nicht nur in den ärmsten Ländern.
Angel Gurria, Generalsekretär der OECD, spricht von 17 Millionen neuen Arbeitslosen in den OECD-Staaten, verglichen mit 2007. Für 2010 rechnet er mit zusätzlich weiteren 5 Millionen (Interview in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 29. Januar). Die Ökonomen der OECD erwarten einen «dauerhaft grösseren Sockel der Beschäftigungslosigkeit».

Staatsverschuldung

Um einen völligen Zusammenbruch des Finanz- und Wirtschaftssystems zu verhindern, was womöglich zu Panik und Chaos geführt hätte, sahen sich die Regierungen vieler Länder gezwungen zu intervenieren. Sie unterstützten Grossbanken bei der Übernahme kleinerer Banken, die vom Konkurs bedroht waren, gewährten gefährdeten Grossbanken Stützungskredite in zwei- und dreistelligen Milliardenbeträgen oder übernahmen bedrohte Banken gleich selber. Sie pumpten Geld in den Wirtschaftskreislauf, zum Beispiel in Form von Abwrackprämien. Und stellten, da wo sie konnten, über ihre Zentralbanken billiges Geld zur Verfügung.
Mit den staatlichen Stützungsprogrammen wurden aus den Schulden, welche die Banken durch Spekulation und Betrug am Börsen-Casino angehäuft hatten, Staatsschulden – mit allen bekannten Konsequenzen. Die Verschuldung einzelner Länder explodierte förmlich. Angel Gurria rechnet damit, dass die Summe der Schulden aller OECD-Staaten Ende 2010 grösser sein wird als das entsprechende Bruttoinlandprodukt dieser Länder.
Schon heute wird im öffentlichen Sektor überall der Rotstift angesetzt, ganz besonders bei den Sozialausgaben, im Bildungswesen sowie in der Gesundheits- und Altersvorsorge. Überall muss gespart werden. Einigen Ländern droht der Staatsbankrott und damit der Verlust der politischen Eigenständigkeit, wie die Beispiele Lettlands, Islands und Griechenlands zeigen. Alle drei galten vor der Krise als Vorzeigestaaten für wirtschaftliche Prosperität.
In Lettland steht heute der öffentliche Sektor praktisch unter IWF- und EU-Verwaltung. Zahlreiche Krankenhäuser und Schulen wurden geschlossen, Tausende Lehrer und Mitarbeiter des Gesundheitswesens entlassen und die Löhne halbiert. In Island sollen die Steuerzahler auf Druck der EU in einem solchen Ausmass für die Schulden ihrer privaten Banken haftbar gemacht werden, dass Bruno Bandulet von der « finanziellen Versklavung einer ganzen Generation» spricht und den Vorgang mit dem Diktat von Versailles vergleicht (siehe Zeit-Fragen Nr. 1 vom 4.1.2010). Und Griechenland steht unter strenger EU-Überwachung, die sicherstellen soll, dass es das Brüsseler Stabilitätsprogramm einhält. Dazu gehören Kürzungen der Staatsausgaben und der Löhne im öffentlichen Sektor und die Erhöhung des Rentenalters.
Doch es regt sich Widerstand. In Lettland demonstrieren Bürger für bessere Löhne. Sie wehren sich dagegen, dass die Regierung eine Schuld unterschreibt, die sie gar nicht schuldet. In Island hat das Volk die Rückzahlung der von den Banken verursachten Schulden in einem Referendum entschieden abgelehnt. Und auch in Griechenland wehrt sich das Volk gegen das Diktat von Brüssel (siehe Zeit-Fragen Nr. 5 vom 1.2.2010).

Grossbanken als Profiteure

Mitten in die Krise, während die Regierungen die Bevölkerung auf einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit vorbereiten, platzen wie zum Hohn die ersten Meldungen vom Wiederaufschwung der Wirtschaft, der allerdings nur an den Börsen stattfindet. «Platzhirsche der Wall Street profitieren von der Krise. Lukrative Beratungsmandate für Broker», titelt die «Neue Zürcher Zeitung» am 9. Juni 2009. Und einen Monat später, am 17. Juli, lautet die Schlagzeile: «JP Morgan glänzt mit hohem Gewinn. Vollständige Rückzahlung der staatlichen Kapitaleinlagen.» Morgan hatte seinen Reingewinn gegenüber dem Vorjahr um 36% gesteigert, zusätzlich 10 Milliarden Dollar Rückstellungen vorgenommen und erst noch die staatliche Kapitaleinlage von 25 Milliarden Dollar samt Dividenden zurückgezahlt und sich damit aus der Verpflichtung gegenüber dem Staat freigekauft. Ende Oktober wartet die Credit Suisse mit ähnlich hohen Gewinnmeldungen auf. Der Reingewinn von 2,4 Milliarden Franken für das dritte Quartal war der höchste, den die CS je für ein drittes Quartal ausgewiesen hat, und das gesamte Jahr das drittbeste in der Firmengeschichte.
Der Grossteil der Gewinne wurde im Investment Banking realisiert, in genau jener Sparte, die ein Jahr zuvor die Turbulenzen ausgelöst hatte. Dazu die «Neue Zürcher Zeitung» am 24. Oktober: «Ausgerechnet das Investment Banking, die Hauptquelle des Branchendebakels im letzten Jahr, entpuppt sich heuer als stärkste Profitmaschine. Bei der CS entfielen rund zwei Drittel des Vorsteuergewinns auf das Investment Banking. Der Spatengewinn ergab laut CS eine Vorsteuerrendite auf das eingesetzte Kapital von 37%» (!).
Das Geschäft profitierte laut «Neuer Zürcher Zeitung» von einer überdimensionalen Reduktion der (Lohn-)Kosten, dem Anstieg der Aktienkurse, der Billiggeldpolitik der Notenbanken, die in Kombination mit steigender Risikofreude der Investoren wie eine Lizenz zum Gelddrucken wirke und nicht zuletzt vom Verschwinden wichtiger Marktteilnehmer, die übernommen oder geschwächt waren (Lehman, Bear Stears, Merrill Lynch, UBS).
Offenbar findet ein gnadenloser Verdrängungskampf statt. Seit 2007 haben allein in den USA 187 Banken die Türen geschlossen («Neue Zürcher Zeitung» vom 22.2.10). Und das Bankensterben geht weiter. Die grössten Institute sind noch grösser geworden und gehen gestärkt aus der «Krise» hervor. Die eigentliche Krise aber ist eine Krise der Arbeit, die bereits Anfang der 90er Jahre nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Konkurrenzmodells begonnen hat. Seither wurden auf der Jagd nach immer grösseren Gewinnen massenhaft qualifizierte Arbeitsstellen vernichtet. Die Krise hat diesen Prozess beschleunigt.

Wie weiter?

Hat vor der Krise sich vielleicht manch einer noch vom Marmor der grossen Banken blenden lassen und sogar damit geliebäugelt, selbst ein wenig vom grossen Reibach zu profitieren und auch sein Geld für sich arbeiten zu lassen, wie es in der Werbung heisst, so sind ihm spätestens jetzt die Augen aufgegangen. Das heutige Finanz- und Geldsystem ist eine Erfindung, die von Anfang an darauf gerichtet war, den Reichtum einiger weniger zu mehren und ihre Macht zu festigen, ohne dass es die grosse Mehrheit merkt.1 Arbeitslosigkeit, Hunger und Krieg sind nicht Zeichen seiner Krise, sondern integraler Bestandteil dieses Systems.2 Eines verbrecherischen Systems! Ein Finanzsystem, dass wie dieses auf Täuschung und Betrug aufgebaut ist, wird auch durch einige Regulierungen nicht ehrlicher. Es muss längerfristig durch ein neues ersetzt werden, das sich von Grund auf am Gemeinwohl orientiert.
Damit können wir heute anfangen. Das Rad muss nicht neu erfunden werden. Es gibt bereits viele gute Ideen, die aufgegriffen und weiterentwickelt werden können. Wenn die Menschen sich erst einmal vom Profitdenken befreit haben und sich wieder auf ihren eigenen Verstand und ihre eigene Schaffenskraft verlassen, werden unzählige neue hinzukommen, die alle in friedlicher Konkurrenz nebeneinander leben können. Es wird viele richtige Lösungen geben, die sich einzig am Nutzen für das Gemeinwohl messen lassen müssen. Daran gemessen, ist unserer Finanzsystem durchgefallen.
Schon heute gibt es viele kleine Banken, die sich am Börsen-Casino nicht beteiligen. Das braucht es nicht, um vernünftig wirtschaften zu können. Sie beschränken sich auf das klassische Bankgeschäft des Geldaufbewahrens und der Gewährung von Krediten; und das zu vernünftigen Konditionen. Zeit-Fragen hat in letzter Zeit einige solcher Beispiele vorgestellt. Falls notwendig, können auch neue Banken gegründet werden. Raiff­eisen hat es uns vorgemacht. Er hat die Bauern vom Wucherzins befreit.3 Warum soll das heute nicht auch gehen! In Deutschland gibt es die GLS-Banken – Geben, Leihen, Schenken. Warum nicht dieses Motto zum Leitgedanken unseres Umgangs mit Geld machen?
Der Genossenschaftsgedanke, auf den Raiff­eisen sich stützte und den er weiterentwickelte, beinhaltet mehr als eine blosse Anleitung für wirtschaftliche Zweckverbände. Er verkörpert Grundwerte des menschlichen Zusammen­lebens in Gleichwertigkeit und Freiheit.
Überall tun Menschen sich zusammen, in Handwerkskooperationen, Nachbarschaftshilfen, Quartiervereinen, in Städte- und Länderbündnissen. Die Zusammenarbeit ist länderübergreifend und weltumspannend. Sie darf nicht länger durch ein Zwangssystem behindert werden, das in betrügerischer Absicht das Wort «frei» auf seine Fahne schreibt, damit aber die Freiheit meint, die Welt zu versklaven, indem es alles Denken und Handeln dem Profitdenken unterwirft.
Der Weltagrarbericht, von dem nun eine ausgezeichnete Zusammenfassung in deutscher Sprache vorliegt, weist den Weg zu neuem Wirtschaften, bei dem die Völker die Versorgung mit gesunden Nahrungsmitteln selbst in die Hand nehmen und den Hunger beseitigen können.4
Dörfer, die auszusterben drohen, können wieder belebt werden. Sie bieten reichlich Lebensraum für die Entfaltung von Gewerbe und Handwerk und können zu neuem Leben erblühen. Das ist gar nicht so schwer, wenn man erst einmal das alte Denken abgelegt hat. •

1    G. Edward Griffin, «Die Kreatur von Jekyll Island. Die US-Notenbank Federal Reserve. Das schrecklichste Ungeheuer, das die internationale Hochfinanz je schuf», ISBN 3-938516-28-3
2    Naomi Klein, «Die Schockstrategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus», ISBN 978-3-596-17407-2, und John Perkins, «Bekenntnisse eines Economic Hit Man. Unterwegs im Dienst der Wirtschaftsmafia», ISBN 3570500667
3    Franz Braumann, «Ein Mann bezwingt die Not.
Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Ein Lebensroman», ISBN 978-3-87151-038-0
4    «Wege aus der Hungerkrise. Die Erkenntnisse des Weltagrarberichtes und seine Vorschläge für eine Landwirtschaft von morgen.» Bestellung beim AbL.-Verlag, +49 (0)2381 492 288, Diese E-Mail-Adresse ist gegen Spambots geschützt! JavaScript muss aktiviert werden, damit sie angezeigt werden kann.