ADHS-Kinder - Rebellen für die Wahrheit

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Was ist ADHS wirklich? Medikamente wie Ritalin unterdrücken sie nur Symptome - was sind die wahren Ursachen? Wie können Eltern ihren Kindern wirklich helfen?

ADHS-Kinder - "Chaoten" in existenzieller Unruhe

Sie zappeln. Sie stören. Sie bringen ihre Eltern und Lehrer an den Rand der Verzweiflung. Kinder und Jugendliche mit einer „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung" oder auch „Zappelphilipp-Syndrom" genannt. Sie funktionieren einfach nicht. Zwischen 2006 und 2011 hat sich ihre Zahl um 40 Prozent erhöht. Tendenz steigend. Experten sprechen gar von einer „Generation ADHS." Niemals zuvor waren Kinder verhaltensauffälliger, haben die an sie gestellten Forderungen so radikal verweigert.



Massendiagnose ADHS? Selten werden die wirklichen Beweggründe wahrgenommen, die im seelischen Erleben eines „unruhigen Kindes" wirken. Ganz zu schweigen von ihrer Bedeutung für die Neue Zeit. Haben wir den Mut uns ihrer Radikalität zu stellen? Nehmen wir ihre Aufforderung an uns wahr? Sind wir bereit für eine Pädagogik des Herzens?

In der Praxis erlebe ich es oft. Wütend einfordernde Kinder, körperlich wie geistig hyperaktiv, mit enormer Stärke - daneben überforderte, verzweifelte Eltern. Für beide war der Weg bis hierher ein schierer Leidensweg: unruhige Kinder weinen schon als Babys viel (oder auch sehr wenig), sind in ihrem Getriebensein, ihrer Aggression und Impulsivität völlig ungehemmt, als Kehrseite dominieren Depression und Angst, und überfordern ihre Eltern. Sie passen in kein System. Stören sich an keinen Konventionen. Lassen sich nicht beruhigen. Nicht überzeugen. Schon gar nicht belehren. Etwas in ihnen ist in Rebellion. Im Ausnahmezustand. Dauerhaft. Schwer auszuhalten für Eltern, Geschwister, Erzieher, Lehrer, Therapeuten, die Kraft in ihnen, die sie treibt. 

Nach wie vor dominiert in der Öffentlichkeit das medizinische Erklärungsmodell, das von einer genetischen Disposition ausgeht, die nicht heilbar ist. Veränderungen im Gehirn führen zu einer Störung des Neurotransmitter-Systems, die wiederum bewirkt, dass unruhige Kinder sich wenig regulieren und steuern können. Wer den Leidensdruck von Familien mit hyperaktiven Kindern kennt, den zähen Überlebenskampf, in den sich Eltern und Kinder tagtäglich verstricken, weiss, dass Medikamente mitunter notwendig sind und eine Erleichterung darstellen. Doch auch mit Medikamenten finden unruhige Kinder nicht zu sich selber. Es braucht die Weitung des Blickes, um zu erfassen, was unruhige Kinder seelisch bewegt. Woher kommt ihre Beunruhigung? Worauf ist ihr Fokus gerichtet? Wer ihre tiefe Verzweiflung erlebt, weiss: Dieser Zustand ist existentiell. Können unruhige Kinder zur Ruhe kommen?


ADHS und die „unsichtbare" Mutter

Tilda ist drei. Während ihre Mutter bereits bei mir in der Praxis sitzt, steht Tilda im Hausflur und schreit. Ich höre sie seit einer viertel Stunde, Mutter und Tochter haben das Haus gemeinsam laut sprechend betreten. Die Mutter will ihre Tochter dazu bewegen, folgsam zu sein. Tilda bleibt immer wieder stehen, weigert sich weiterzugehen. Jetzt steht sie im zweiten Stock und schreit ohrenbetäubend laut. Die ersten Nachbarn öffnen die Türen - vom psychischen und emotionalen Kampf des Kindes aufgeschreckt. Tildas Mutter ist promovierte Juristin: „Sie muss endlich lernen, Grenzen zu akzeptieren. Ich muss einfach hartbleiben, sie erziehen." Doch Tilda ist nicht zu erziehen. „Mama! Komm` runter! Mama!" brüllt Tilda wieder und wieder. „Komm` hoch! Tilda! Ich bin hier, im dritten Stockwerk über dir! Komm`!" Tildas Mutter ist in den Hausflur gegangen. „Ich sehe dich nicht! Mama! Ich sehe dich nicht!!" Tildas Körper ist vor Verzweiflung gekrümmt. Sie schreit und windet sich in Schüben aus Angst und Wut. Nachbarn versuchen sie zu trösten, in der Hoffnung, sie hört endlich auf. Tilda hört nicht auf. Ihr Schmerz ist zu tief, um auf oberflächliche Art und Weise getröstet zu werden. Tilda ist mutterseelenalleine. Vom wichtigsten Menschen in ihrem Leben verlassen. „Wie ein Ertrinkender, der um`s Überleben kämpft!", denke ich und entdecke den Impuls auch in mir: Es möge endlich aufhören. Tildas Mutter ist bei Tilda angekommen, nimmt sie auf den Arm. Es dauert lange, bis Tilda sich wieder beruhigt hat. „Ich weiss nicht mehr, was ich machen soll." Tildas Mutter ist ratlos. Sie will das Beste für ihr Kind. Und weiss nicht, was das Beste ist. 
Selten drückt ein „unruhiges" Kind es so klar aus, wie Tilda es in diesem Moment tat, was sein inneres Erleben bewegt: „Mama, ich kann dich nicht sehen!"

ADHS als Bindungsstörung

Wir brauchen die sichere Bindung zur Mutter. Von ihr hängt unser Überleben ab. Sind wir hungrig, weinen wir - die Mutter kommt, füttert uns, es geht uns besser. Fühlen wir uns unwohl, weinen wir - die Mutter kommt, tröstet uns, wechselt die Windel, es geht uns besser. Sie schmust mit uns, kann uns fühlen, ist ganz für uns da. Über die Bindung zur Mutter entwickeln wir uns, unsere „Bilder" von uns und der Welt. Dabei steht die Qualität der Bindung an erster Stelle: Bekomme ich die Sicherheit, den Schutz und die Geborgenheit, die ich brauche? Ist meine Mutter für mich da, ist sie anwesend, einfühlsam? Kann sie meine Bedürfnisse befriedigen? Oder ist sie emotional abwesend, ängstlich, belastet, versorgt mich zwar, wird aber meinen wirklichen Bedürfnissen nicht gerecht, kann mich nicht wahrnehmen, sich nicht in mich einfühlen. Dann gerate ich in Not. Weiss nicht, wie und ob meine Mutter auf meine Bedürfnisse reagiert. Strenge mich an, trotzdem bleiben meine Bedürfnisse unbefriedigt, ich schreie, weine, resigniere, schreie, weine. Es kommt niemand. Niemand ist da. Meine Augen erreichen die Mutter nicht. Sie ist woanders. Abwesend. Ich bin alleine. Fühle mich ängstlich, verlassen, wütend. Ich brauche Schutz. Bin schutzlos. Verlassen. Habe Angst zu sterben. Versuche es noch einmal. Schreie. Mache auf mich aufmerksam. Niemand kommt. Ich werde sterben. Jemand kommt. Sie ist nicht anwesend. Ich brauche sie. Bin alleine. Schreie. Gebe auf.Der emotionale Kreislauf, in dem sich unruhige Kinder befinden, ist der Versuch, die Angst und Ohnmacht, den drohenden Tod, der allgegenwärtig ist, durch Bewegung zu bewältigen. Die Beunruhigung ist existentiell. Denn die Mutter ist nicht „da."

Symptomaufstellung ADHS

Symptomaufstellungen zeigen, dass unruhige Kinder ihre Mütter emotional nicht erreichen können, weil diese ihre eigenen seelischen Verletzungen nicht geheilt haben. In der Verzweiflung des Kindes spiegelt sich zugleich die Verzweiflung der Mutter, die in ihrer eigenen „Kindheitswunde" gefangen ist und für das Kind nicht real, nicht als Mutter sichtbar ist. Oft fühlen sich die Mütter selber noch als Kinder, nehmen nicht oder nur am Rande wahr, dass Kinder da sind, die sie brauchen und die mit allen Mitteln versuchen auf sich aufmerksam zu machen. Es ist die Kernbotschaft, die Tilda in den Hausflur schrie: „Mama, ich kann dich nicht sehen!" Umgekehrt können traumatisierte Mütter ihre Kinder nicht sehen, hängen in unbewältigten Situationen mit ihren eigenen Müttern fest. Dabei spielen Kriegsgeschehnisse und unaufgearbeitete Erlebnisse aus der Grosselterngeneration eine grosse Rolle. In seiner Sehnsucht nach Bindung öffnet sich das Kind so weit, dass es sich über die Mutter an traumatisches Geschehen bindet, an das seine Mutter gebun­den ist. Auch das traumatisiert das Kind. Die Symptome der Unruhe, Impulsivität und Unaufmerksamkeit lassen sich als Bewältigungsversuch erkennen, mit dem das Kindes auf seine emotional abwesende Mutter reagiert, zugleich als Reaktion auf deren Traumagefühle, mit denen es in der Sehnsucht nach Bindung, in der Sehnsucht überhaupt etwas fühlen zu können, in Kontakt kommt. Diese Traumagefühle hat die Mutter weitestgehend abgespalten, ins Unbewusste verdrängt. Im Aufstellungskontext, der die seelische Wirklichkeit einer Person widerspiegelt, kommen sie wieder hoch ins Bewusstsein. 

„Unruhige" Kinder überfordern ihre Eltern. Stossen auf Ablehnung. Widerstand. Werden früh stigmatisiert. Sie machen aufmerkam auf die Wunden, die nicht geschlossen sind. Wenn der eigene Schmerz nicht angeschaut, nicht angenommen ist, ist es schwer die Radikalität auszuhalten, mit der ein „unruhiges" Kind seine Verzweiflung zum Ausdruck bringt. 

Und doch - auch diese Kinder tun das, was Kinder zu allen Zeiten getan haben. Sie nehmen das „Unerledigte", „Unerlöste" der Generation vorher auf ihre Schulten, wie wir es getan haben, wie unsere Eltern es getan haben. Die Stärke des Ausdrucks, die Ausdauer ihrer Rebellion, die Kraft, die heutigen Kindern zur Verfügung steht, hat dabei sicherlich eine nie zuvor erreichte Qualität angenommen. Sie nehmen es nicht einfach hin, flüchten sich nicht in Rollenspiele, verstecken sich nicht. Sie erdulden es nicht - nicht angenommen, nicht gesehen zu werden. Sie rebellieren dagegen an. Ihr Ausdruck ist von grosser Authentizität. Nichts an ihnen ist unecht. Sie sind bereit den Widerstand auf sich zu nehmen, der ihnen von Eltern und Gesellschaft entgegenschlägt. Jedes ihrer Symptome, jeder oberflächlich noch so unverstandene Ausdruck ihrer Beunruhigung steht im Dienste von Beziehung, von Heilung. Es ist notwendig für sie und für uns, dass wir unser Verständnis für sie erneuern. Und unser Herz öffnen. 

Unruhige Kinder finden zur Ruhe, wenn Eltern bereit sind, ihre eigenen seelischen Verletzungen anzuerkennen und zu heilen. Dann findet unmit­tel­bar eine Ver­än­de­rung in ihrer Seele statt. Sie dür­fen end­lich zur Ruhe kommen. Es sind enorm starke Kinder und sie brauchen enorm starke Eltern: authentisch, klar, liebevoll, zugewandt.

Kinder der Neuen Zeit

Unruhige Kinder sind die Kinder der Neuen Zeit. Sie fordern uns auf zu wachsen. Sie stehen für den Wandel, der das Alte, Falsche, Ungeheilte transformieren will in einen neuen, authentischen, liebevollen Ausdruck. Dafür nehmen sie viel auf sich. Sie halten uns den Spiegel vor - spiegeln das Unangenehme, Gespaltene, Schmerzvolle in uns. Wir als Erwachsene tragen die Verantwortung Vorbilder zu sein. Wenn ein Erwachsener nicht in Kontakt mit sich ist - welches Vorbild kann er sein? Wenn ein Erwachsener nicht in innerer Klarheit mit sich und seinen Themen ist - welches Vorbild kann er sein? Unruhige Kinder werden so lange rebellieren, quengeln, schreien, sich verweigern bis wir als Erwachsene in eine heilsame Bewegung kommen. In diesem Moment endet ihr Dienst, ist überflüssig geworden.

Unsere Leistungs- und Profitgesellschaft scheint vom Wandel hin zum Neuen nichts mitbekommen zu wollen. Der Mensch mit seinen wirklichen Bedürfnissen steht nicht mehr im Mittelpunkt, schon lange nicht mehr. Das wird nicht so bleiben. Immer mehr Menschen machen sich auf den Weg, suchen nach neuen Formen des Zusammenlebens - zurück zum WIR, zurück zu einem GEMEINSAM, in dem die Werte des Herzens geachtet und gelebt werden. Der Bewusstseinswandel, der weltweit begonnen hat, ist nicht mehr aufzuhalten. Die Rebellen für die Wahrheit spielen darin eine grosse Rolle. Wie formulierte es eine wunderbare spirituelle Lehrerin erst kürzlich: „Erziehst du noch? Oder liebst du schon..."

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Autorin: Jasmin Luise Hermann

ist Aufstellerin und Trauma-Beraterin und arbeitet in eigener Heilpraxis in Berlin-Kreuzberg. Sie bietet regelmässig Symptomaufstellungen zum Thema ADHS und Aufstellungstage mit allgemeinen Anliegen an. Die Rück- verbindung zur Wahren Natur als Quelle unserer Kraft, um schwere Trau- matisierung überwinden zu können, steht im Mittelpunkt ihrer Arbeit.


http://www.jasminluisehermann.de

Quelle : Sein.de